Reverse Engineering und Beweislast im GeschGehG-Prozess

Über die besonderen Schwierigkeiten der Beweisführung im GeschGehG-Prozess hatten wir schon in einem anderen Beitrag (hier) berichtet. Die Analyse einer Entscheidung des ArbG Aachen verdeutlicht, welche Einwände ein Geheimnisinhaber zur erfolgreichen Durchsetzung seiner Ansprüche überwinden muss, wenn sich der vermeintliche Verletzer auf zulässiges Reverse Engineering beruft (Urt. v. 13.01.2022, Az. 8 Ca 1229/20).

Ausgangsfall

Die Klägerin ist ein führender Hersteller von Füllmaschinen für Lebensmittel und Getränke sowie dazugehöriges Verpackungsmaterial in Form von sog. „Sleeves“. Dabei handelt es um dünne Kunststoff-Schläuche, die bereits an einer Längsnaht versiegelt sind. Zur Herstellung der Sleeves nutzt die Klägerin spezielle Maschinen (Faltschachtelklebemaschinen), die sie von einem Zulieferer bezieht. Der Zulieferer dieser Maschinen ist vertraglich verpflichtet, diese nur an die Klägerin zu liefern. Sehr ähnliche Maschinen zur Verarbeitung von Sleeves werden allerdings weltweit von mehreren Unternehmen angeboten. Auf dem Weltmarkt sind außerdem mehrere, insbesondere chinesische Unternehmen vertreten, die – wenn auch in deutlich geringer Stückzahl – ebenfalls Sleeves produzieren.

Bei dem Beklagten handelt es sich um einen früheren leitenden Angestellten der Klägerin, der in die F&E-Tätigkeit eingebunden war und Zugang zu zahlreichen technischen Unterlagen hatte. Der Beklagte hat im Jahr 2015 mehrere E-Mails einschließlich Anlagen unter einem Pseudonym an die Gesellschafter eines potenziellen Konkurrenten der Klägerin übermittelt. Die Anlagen enthielten eine Reihe spezifischer technischer Informationen für die Herstellung von Sleeves. Den Empfängern dieser Informationen ist die Herstellung von Sleeves allerdings nicht gelungen.

Ein Verfügungsverfahren, das die Klägerin im Jahr 2018 kurz nach Bekanntwerden des E-Mail-Versands durch den Beklagten eingeleitet hat, blieb in zwei Instanzen ohne Erfolg (LAG Köln, Urt. v. 02.12.2019, Az. 2 SaGa 20/19). Unter anderem befand das LAG, dass in diesem Verfahren im Hinblick auf die unstreitige Verfügbarkeit von Sleeves anderer Hersteller nicht davon auszugehen sei, dass die vom Beklagten übermittelten Informationen ein Geschäftsgeheimnis bildeten. Nun verfolgt die Klägerin ihre Ansprüche in einem Hauptsacheverfahren weiter.

Die Klägerin meint, dass die Existenz von Wettbewerbsprodukten der Annahme eines Geschäftsgeheimnisses nicht entgegenstehe. Die Sleeves der Wettbewerber seien qualitativ minderwertig, weil sie lediglich niedrigere Anforderungen an die Aseptik, Haltbarkeit und Undurchlässigkeit von Flüssigkeiten erfüllten. Darüber hinaus sei mit den Sleeves der Wettbewerber keine vergleichbare Produktionsgeschwindigkeit erreichbar. Für sämtliche dieser Merkmale sei gerade die Nutzung der spezifischen technischen Informationen erforderlich, die der Beklagte an den Wettbewerber übermittelt habe. Entsprechendes gelte für einen besonders kostengünstigen und ressourcensparenden Produktionsvorgang. Ferner erläutert die Klägerin, dass sich die technischen Daten auch nicht mit verfügbaren Messgeräten von den verfügbaren Sleeves ermitteln lassen.

Der Beklagte wiederum legt detailliert dar, dass bei jeglicher Herstellung von Sleeves bestimmte Anforderungen an die Qualität und Aseptik erfüllt sein müssen, da diese andernfalls von vornerein unbrauchbar seien. Eine Vielzahl der in den Unterlagen enthaltenen technischen Informationen seien ohnehin keine Geschäftsgeheimnisse, weil diese Daten von den Herstellern der Verpackungsmaschinen zur Verfügung gestellt würden. Ferner seien eine große Zahl dieser Maschinen zu Stückpreisen von mindestens 500.000 Euro an unterschiedliche Abnehmer vertrieben worden. Kein Unternehmen würde diese Maschinen erwerben, wenn es diese auch in der Praxis nicht zur Produktion von Verpackungen mit Sleeves einsetzen könne.

Entscheidung

Das Gericht weist die Klage ab. Die Klägerin habe nicht dargelegt, dass die relevanten technischen Informationen nicht einem größeren Kreis Dritter zugänglich seien (§ 2 Abs. 1 a) GeschGehG).

Das Gericht erinnert daran, dass auf dem Weltmarkt unstreitig mehrere Anbieter von Sleeves tätig seien, wobei ein Anbieter immerhin 250 Mio. Produkte hergestellt habe. Vor diesem Hintergrund könne sich die Klägerin nicht pauschal darauf berufen, dass sämtliche Produkte von Wettbewerbern von minderer Qualität seien. Bei einer derart hohen Absatzzahl sei dieser Einwand unplausibel. Im Hinblick auf den detaillierten Sachvortrag des Beklagten sei es vielmehr Aufgabe der Klägerin gewesen, genaue Informationen zur Herstellung und Qualität der Wettbewerbsprodukte und zur Möglichkeit der Ermittlung von technischen Informationen über diese Produkte mittels Reverse Engineering vorzulegen. Unter anderem hätte die Klägerin die physikalischen und chemischen Eigenschaften der Wettbewerbsprodukte mit den Eigenschaften der eigenen Sleeves vergleichen müssen und nähere Angaben zu den Möglichkeiten der Vermessung oder weiteren Informationsermittlung beibringen müssen. Insgesamt habe die Klägerin keine der streitgegenständlichen technischen Informationen in einen konkreten Zusammenhang zu bestimmten Eigenschaften oder Fertigungsumständen gebracht. Zur Verdeutlichung benennt das Gericht eine Reihe konkreter Umstände, die nach seiner Ansicht von der Klägerin hätten vorgetragen werden könnten. Vor dem Hintergrund des unzureichenden Vortrags meint das Gericht, dass die Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht in Betracht komme und kommt dann zu dem Ergebnis, dass die insoweit beweisbelastete Klägerin das Vorliegen einer nicht öffentlich bekannten Information nicht dargelegt habe.

Hinweis

Das Verfahren zeigt exemplarisch die erheblichen Beweisprobleme, mit denen die klagende Partei in einem GeschGehG-Verfahren zu kämpfen hat. Eine Besonderheit ergab sich hier sicherlich aus dem Umstand, dass Produkte auf dem Markt verfügbar waren, die zumindest grundsätzlich ähnliche Eigenschaften aufwiesen und für Reverse Engineering (theoretisch) genutzt werden konnten. Dies hat die Ausgangslage für den Beklagten deutlich erleichtert. Gleichwohl ist es bemerkenswert, dass die Klage trotz unstreitiger Weitergabe einer Vielzahl technischer Informationen abgewiesen wurde.

Letztlich lässt sich von außen nicht beurteilen, ob das Arbeitsgericht zu strenge Maßstäbe an die Darlegungslast der Klägerin anlegt. Es ist durchaus vorstellbar, dass es den Prozessvertretern der Klägerin nicht gelungen ist, die technischen Einzelheiten darzustellen und einzelne technische Informationen aus den weitergegebenen Informationen konkret bestimmten Parametern in der Produktion zuzuordnen. An einer Stelle sind allerdings die Erwägungen des Gerichts nicht überzeugend, sodass die Klägervertreter möglicherweise nur kopfschüttelnd auf das LAG oder BAG vertrauen können:

Soweit ersichtlich, geht das Gericht davon aus, dass eine nicht allgemein bekannte Information im Sinne von § 2 Nr 1 a) GeschGehG schon dann nicht mehr vorliegt, wenn es einem Dritten theoretisch möglich wäre, diese Information im Wege des Reverse Engineering zu erlangen. Diese Wertung dürfte nicht richtig sein.

Selbstverständlich schließt das Erlangen einer technischen Information durch Handlungen nach § 3 Abs. 2 GeschGehG (also Reverse Engineering) den Vorwurf eines Verstoßes gegen das GeschGehG aus. Es handelt sich jedoch um ein Privileg zugunsten der Personen, welche die Handlungen tatsächlich vornehmen und auf diese Weise an konkrete technische Informationen gelangen. Die rein hypothetische Möglichkeit, dass ein Dritter Informationen auf diesem Weg erlangen könnte, gestattet demgegenüber keine Schlussfolgerungen hinsichtlich der Frage, ob es sich tatsächlich um allgemein bekannte Informationen handelt. Derjenige, der Reverse Engineering betreibt, kann ein erhebliches Interesse daran haben, diese Informationen selbst weiterhin geheim zu halten. Er ist dann weiterer rechtmäßiger Inhaber des inhaltlich identischen Geschäftsgeheimnisses. Es liegt aber in der Natur des Geschäftsgeheimnisses, dass mehrere rechtmäßige Inhaber nebeneinander existieren können – gerade hier zeigt sich der Unterschied zu einem Immaterialgüterrecht. Diesen Unterschied scheint das Gericht nicht erkannt zu haben, wie auch der Hinweis auf die Nutzung von „exklusivem Know-how“ durch die Klägerin andeutet. Die Information, die ein Geschäftsgeheimnis ist, muss gerade nicht exklusiv sein. Es ist ohne Weiteres denkbar, dass zwei oder drei Unternehmen weltweit dieselben technischen Informationen nutzen und als Geheimnis hüten. Dies führt aber nicht dazu, dass diese Information in den Kreisen, die üblicherweise mit ihr umgehen, allgemein bekannt oder ohne Weiteres zugänglich ist. Das Tatbestandsmerkmal des § 2 Nr. 1 a) GeschGehG ist nur dann nicht erfüllt, wenn die jeweilige Information den Angehörigen der relevanten Kreise allgemein bekannt oder ohne Weiteres zugänglich ist, ohne dass (in der Regel aufwändiges) Reverse Engineering betrieben wurde. Für die Entscheidung des Falles käme es also darauf, wie groß der Aufwand ist, den ein Dritter für die Ermittlung der technischen Informationen betreiben muss. Kann ein potentieller Wettbewerber die Informationen mit geringem Zeit- und Kostenaufwand erlangen, sind diese „ohne weiteres zugänglich“ und es liegt kein Geschäftsgeheimnis vor. Ist die Beschaffung der Informationen nur mit komplexen Messverfahren und ggf. (so im Fall angedeutet) unter Beschaffung spezieller Analyse- und Messinstrumente möglich, so ist und bleibt die technische Information bis zu ihrer weiteren Verbreitung ein Geschäftsgeheimnis.