Ein beliebtes Argument zur Verteidigung im Geheimnisschutzprozess ist der Hinweis, dass er oder sie mitnichten Unterlagen kopiert oder mitgenommen, sondern bestimmte Informationen im Gedächtnis behalten habe. Angesichts der wissenschaftlichen Debatten über die Seltenheit eines fotografischen Gedächtnisses und solcher Erinnerungsfähigkeiten könnte man meinen, die deutschen Gerichtssäle seien ein Magnet für die besten Gedächtniskünstler des Landes. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in seinem Beschluss vom 2. Mai 2024 (Az. I ZR 96/23) eine Daumenregel aufgestellt.
Sachverhalt: Einwahldaten aus der Erinnerung?
Die Klägerin betreibt eine Online-Plattform für den Handel mit Autoteilen, auf der Großhändler und Einzelhändler miteinander vernetzt werden. Auf der passwortgeschützten Plattform stand den autorisierten Großhändlern jeweils ein eigener Bereich offen, in dem sie Kunden kontaktieren und auf sensiblen Daten zugreifen konnten. Ein ehemaliges Vorstandsmitglied der Klägerin, der nach seinem Ausscheiden bei einem Wettbewerber anheuerte, hatte während seiner Tätigkeit Zugriff auf die Einwahldaten der Kunden und nutzte diese auch nach seinem Ausscheiden, um sich in die Accounts mehrerer Kunden einzuloggen.
Die Besonderheit des Falles ergibt sich daraus, dass die Klägerin ihre Ansprüche auf die Nutzung von drei Benutzernamen mit Passwörtern gestützt hatte. Aus dem Sachverhalt ergab sich allerdings, dass der Beklagte zehn Benutzernamen mit Passwort eingesetzt hatte, um insgesamt 300-mal auf die zehn verschiedenen Kundenkonten zuzugreifen. Das LG Kaiserslautern und das OLG Zweibrücken haben sich strikt auf die drei Benutzernamen beschränkt und keine Anhaltspunkte für einen Gesetzesverstoß erkannt. Nach allgemeiner Lebenserfahrung wäre es möglich, sich die Einwahldaten dreier Kunden zu merken.
Der BGH hob diese Entscheidung jedoch auf und stellt klar, dass die Instanzgerichte auch die weiteren Umstände des Sachverhalts hätten berücksichtigen müssen. Die Nutzung von zehn Benutzernamen und Passwörtern mit insgesamt über 80 Zeichen weise darauf hin, dass der Beklagte sich Notizen gemacht haben dürfte.
Bisherige Rechtsprechung zur Gedächtnisleistung
Die Rechtsprechung betont immer wieder, dass ausgeschiedene Arbeitnehmer in der Verwertung ihres redlich erworbenen beruflichen Erfahrungswissens grundsätzlich nicht eingeschränkt werden dürfen. Dieser Grundsatz bezieht sich allerdings nur auf solche Informationen, die dem Arbeitnehmer im Gedächtnis geblieben sind und die er ohne Hilfsmittel aus dem Gedächtnis heraus reproduzieren kann.
Eine ältere Entscheidung des Bundearbeitsgerichts (BAG) betraf die Nutzung von 18 Kundenanschriften, die über viele Jahre von einem Mitarbeiter eines Weinhandels betreut wurden. Mit diesen 18 Kunden hatte der ausgeschiedene Mitarbeiter weitere Geschäfte getätigt. Im Verfahren ging es unter anderem um die Frage, ob der Beklagte vor seinem Ausscheiden Kundendaten kopiert und oder mitgenommen hätte. Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg und BAG gingen in ihren Entscheidungen ohne längere Diskussion davon aus, dass ein der Mitarbeiter die Namen und Anschriften von 18 Kunden, die er über viele Jahre betreut hat, im Gedächtnis behalten könne (BAG, Urteil vom 15.12.1987 – Az. 3 AZR 474/86). Am Rande sei angemerkt, dass bei einer Durchsuchung im Hause des Beklagten immerhin „455 Auftragskopien, 78 Rücknahmescheine, 27 Bestellscheinkopien sowie 46 Originalkundenkarteikarten“ gefunden wurden. Irgendwie ist es dem Anwalt des Beklagten mit einer offenbar bemerkenswerten Argumentation trotzdem gelungen, die Gerichte davon zu überzeugen, dass es sich um wertlose Altunterlagen handelt…
Ebenfalls den Weinhandel betraf das Urteil „Weinberater“ des BGH aus dem Jahr 1999 (Az. I ZR 2/97). Hier hatte ein Handelsvertreter nach Beendigung seiner Tätigkeit mindestens 200-220 ehemalige Kunden seines Geschäftsherrn angeschrieben und sich in der gerichtlichen Auseinandersetzung darauf berufen, sämtliche Adressen unter Zuhilfenahme des Telefonbuchs aus dem Gedächtnis heraus aufgezeichnet zu haben. Die Argumentation hat zwar das OLG Koblenz überzeugt, nicht jedoch den Bundesgerichtshof, der die Sache zur Beweisaufnahme zurückverwiesen hat. Soweit ersichtlich, ist das Verfahren dann außergerichtlich beendet worden (vielleicht aus gutem Grund…).
Ein weiteres Urteil zur Gedächtnisleistung stammt vom Oberlandesgericht Brandenburg aus dem Jahr 2020 (Az. 6 U 42/19). In diesem Fall ging es um eine Versicherungsvertreterin, die nach ihrem Ausscheiden für einen Wettbewerber tätig wurde und behauptete, sich die Daten von Kunden gemerkt zu haben, um sie später zu kontaktieren. Eine konkrete Nutzung konnte die Klägerin allerdings nur in einem Fall nachweisen. Das OLG Brandenburg hielt es für plausibel, dass die Beklagte die Daten jedenfalls einer Kundin im Gedächtnis behalten konnte, da sie über 16 Jahre in einer überschaubaren Gemeinde tätig war. Das Gericht betonte, dass die bloße Erinnerung an Kundendaten nicht zwingend auf eine unbefugte Nutzung hinweist, insbesondere wenn die Anzahl der betreuten Kunden und die Detailtiefe der Informationen überschaubar sind.
Auch das OLG Stuttgart befasste sich 2020 (Az.: 2 U 575/19) mit der Frage, wie wahrscheinlich es ist, dass Mitarbeiter die Einzelheiten von Produktrezepturen und Kundendaten aus dem Gedächtnis heraus behalten können. Im konkreten Fall ging es um Polyurethan-Schaumsysteme, deren Rezepturen aus vielen spezifischen Parametern bestehen. Das OLG Stuttgart bemängelte, dass die Beklagten einfach behaupteten, diese Rezepte im Gedächtnis behalten zu haben, ohne jedoch auf konkrete Rezepturen einzugehen und plausibel zu machen, weshalb ihnen gerade bestimmte Rezepturen – bzw. wesentliche Bestandteile davon – im Gedächtnis haften geblieben sein sollen. Zugleich betont der Senat, dass es durchaus naheliegend sei, wenn ein Mitarbeiter in einer Führungsposition die Identität von Kunden und Ansprechpartnern im Gedächtnis behalte.
Bedeutung von Anzahl und Art der Informationen
Eine zentrale Frage der neuen Entscheidung des BGH war, wie viele und welche Art von Daten ein Mensch sich merken kann. Der BGH betonte, dass es zwar im Rahmen freier Würdigung gemäß § 286 ZPO denkbar sei, dass sich eine Person die Zugangsdaten von drei Kunden, bestehend aus Benutzernamen und einem achtstelligen Passwort, merken könne. Doch zehn Benutzernamen und dazugehörige Passwörter? Das sei eine ganz andere Liga. Es widerspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, sich eine solche Menge an Informationen ohne Aufzeichnungen zu merken.
Die Passwörter bestanden in dem Fall aus acht beliebigen Zeichen, wobei der Entscheidung leider die genaue Art der Zusammensetzung nicht zu entnehmen ist. Diese Angabe dürfte für die Beurteilung des Sachverhalts entscheidend sein: Das menschliche Gedächtnis ist in der Lage, sich gut zusammenhängende und sinnvolle Informationen zu merken, wie beispielsweise die kreativen Passwörter „Passwort“ oder „12345678“. Bei komplexen und zufälligen Zeichenkombinationen („he+3mnc_5jdfj5“) wird dies jedoch erheblich schwieriger, insbesondere wenn es um eine größere Anzahl solcher Daten geht. So erscheint es plausibel, dass sich jemand einfache Passwörter merken kann, während es nahezu unmöglich ist, zehn komplexe oder gar zufällig generierte Passwörter im Gedächtnis zu behalten. Selbst bei „nur“ drei zufällig generierten alphanumerischen Passwörtern dürften realistisch betrachtet erhebliche Zweifel bestehen, dass diese im Gedächtnis bleiben.
Fazit: Realistische Grenzen des Erinnerungsvermögens
Der Beschluss zeigt (einmal mehr), dass sich Unternehmen nicht allein auf die Loyalität ehemaliger Mitarbeiter verlassen, sondern belastbare Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz ihrer Geschäftsgeheimnisse treffen sollten. Dies gilt insbesondere dann, wenn eine wichtige Führungskraft das Unternehmen verlässt. So stellt sich in diesem Fall durchaus die Frage, ob das klagende Unternehmen nach dem Ausscheiden des Vorstands das Passwortmanagement zumindest hätte überprüfen müssen.
Ob die Ausführungen des BGH als Erfahrungssatz zur Gedächtnisleistung eingesehen werden kann, ist nicht ganz klar. In jedem Fall zeigt die Entscheidung die Grenzen der möglichen Argumentation der Verteidigung auf. Einige Fragen verbleiben allerdings noch: Wie kann ein Beklagter beweisen, dass er keine Aufzeichnungen nutzte? Müsste er vor Gericht zeigen, dass er aus dem Gedächtnis in der Lage ist, alle Kombinationen zu nennen? Werden wir in Zukunft also Memory-Wettbewerbe in Gerichtssälen erleben, um Gedächtnisfähigkeiten zu beweisen? Oder wird ein psychologisches Gutachten notwendig?
Klar ist, dass einfache und zusammenhängende Informationen auswendig gelernt werden können, während komplexe und nicht zusammenhängende Daten ohne Aufzeichnungen schwer zu behalten sind. Immerhin zeigt die Entscheidung des BGH die Grenzen des menschlichen Gedächtnisses. Die Einschätzung, dass drei Datensätze denkbar, zehn aber unwahrscheinlich sind, kann nun als praktische Daumenregel für die Erinnerungsleistung in der Praxis dienen.