Zeitliche Rückwirkung für Pflicht zu Schutzmaßnahmen? OLG Stuttgart vs. OLG Hamm

Die Oberlandesgerichte Stuttgart und Hamm haben in jeweils sehr umfangreichen Entscheidung als – soweit ersichtlich – erste Obergerichte eine Aussage zu der Frage getroffen, zu welchem Zeitpunkt angemessene Schutzmaßnahmen iSd § 2 Nr. 1 GeschGehG vorhanden sein müssen oder mussten. Dabei gelangen die Senate jedoch zu entgegengesetzten Ergebnissen:

OLG Hamm: Rückgeltung des GeschGehG (?)

Das Verfahren vor dem OLG Hamm betraf die Verwendung von Konstruktionszeichnungen der Klägerin durch ausgeschiedene Mitarbeiter. Einige Konstruktionszeichnungen waren zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt zwischen 2012 und 2018 an Kunden der Klägerin weitergegeben worden. Darüber hinaus waren die von der Klägerin behaupteten Geheimhaltungsmaßnahmen in der Vergangenheit unstreitig mehrfach umgangen worden. In seiner Entscheidung scheint der Senat davon auszugehen, dass ein Fehlen von angemessenen Geheimhaltungsmaßnahmen im Zeitraum bis Ende 2012 einer Einordnung der Konstruktionszeichnungen als Geschäftsgeheimnis entgegensteht und verneint einen Unterlassungsanspruch (OLG Hamm, Urteil vom 15.09.2020, Az. 4 U 177/90 – Stopfaggregate = WRP 2021, 223-238).

OLG Stuttgart: Keine Rückgeltung des GeschGehG

Demgegenüber stellt das OLG Stuttgart ausdrücklich klar, dass für das Erfordernis von angemessenen Geheimhaltungsmaßnahmen im Sinne von § 2 Nr. 1 GeschGehG ausschließlich der Zeitraum nach Inkrafttreten der Neuregelungen zu beachten sei. Vor Inkrafttreten des GeschGehG (26.04.2019) erwarb der Geheimnisinhaber gegenüber einem Rechtsverletzer ohne weitere Voraussetzungen einen Unterlassungsanspruch, der ihm durch die gesetzliche Neuregelung nicht wieder entzogen werden kann. Dies würde eine unzulässige unechte Rückwirkung darstellen (OLG Stuttgart, Urteil vom 19.11.2020, Az. 2 U 575/19, Rz 242/243).

Bedeutung für die Praxis: Keine Schutzmaßnahmen vor 2019 erforderlich

Die Frage hat enorme Bedeutung für die Praxis: Folgt man der Ansicht des OLG Stuttgart, muss der Geheimnisinhaber bei der Geltendmachung von Unterlassungsansprüchen gegenüber Verletzern, die sich ein Geheimnis vor April 2019 rechtswidrig verschafft haben, seine Schutzmaßnahmen lediglich für den Zeitraum nach Inkrafttreten des Gesetzes nachweisen. Im Übrigen gelten die deutlich niedrigeren Voraussetzungen von § 17 UWG a.F., nach denen der Geheimhaltungswille vermutet wurde. Sollte sich demgegenüber die Ansicht des OLG Hamm durchsetzen, müsste auch für den Zeitraum vor April 2019 angemessene Schutzmaßnahmen nachgewiesen werden. Dies dürfte eine Reihe von Geheimnisinhabern vor sehr erhebliche Schwierigkeiten stellen, da die Notwendigkeit von Schutzmaßnahmen zumindest in Teilen des Mittelstands noch nicht vorhanden war. Gegen die Entscheidung des OLG Hamm wurde Revision eingelegt (I ZR 186/20), so dass vielleicht eine zeitnahe Klärung erfolgt.

Eine weitere Frage bleibt offen: Das OLG Stuttgart musste sich in dem entschiedenen Fall nicht damit befassen, ob sich für den Zeitraum zwischen Ablauf der Umsetzungsfrist (09.06.2018) und Inkrafttreten (26.04.2019) eine andere Bewertung ergeben könnte. Ob sich der Geheimnisinhaber trotz Ablauf der Umsetzungsfrist aufgrund der unterbliebenen nationalen Umsetzung ebenfalls auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes berufen kann, erscheint zumindest zweifelhaft.